Beim Waldschrat

Gutenachtgeschichte von Volker Friebel

 

Stell dir in Gedanken eine breite Treppe vor, die vor dir beginnt und immer tiefer führt, durch eine schöne Landschaft … Geh langsam die Treppe hinab, Stufe um Stufe … Mit jeder Stufe kann die Ruhe in dir größer werden, Stufe um Stufe … Dein Atem geht, Stufe um Stufe hinab … Du spürst vielleicht, wie dein Atem schon ruhiger und ruhiger wird … Du spürst vielleicht schon die Ruhe in dir … Die Stufen enden im Zauberwald …

 

Mieze schnuppert an einem Fliegenpilz neben dem Waldpfad, stupst mit ihrem Näschen an die rote Kappe mit den weißen Punkten. Als sie dich sieht, lässt sie vom Pilz ab und schleicht zu dir.

„Königin Kunigunde hat mich zum Waldschrat geschickt“, schnurrt sie. „Aber irgend etwas hab ich vergessen. Nur was?“ Mieze überlegt, doch ihr fällt nichts ein. „Willst du mich begleiten?“, fragt sie endlich

„Gerne“, nickst du. „Wer ist der Waldschrat denn?“, fragst du, als ihr nebeneinander den Waldpfad geht.

„Der Waldschrat“, Mieze überlegt – und schüttelt das Köpfchen. „Der Waldschrat ist eben der Waldschrat. Eines der Wesen im Zauberwald. Ein alter Kobold vielleicht, ein eingewanderter Zwerg, irgendjemand. Er lebt schon immer hier.“

„Aber du kennst den Weg zu ihm?“, setzt du nach.

„Das ist der Zauberwald“, schnurrt Mieze. „Da gibt es nicht Wege so wie bei euch Menschen. Es gibt auch keine Ampeln. Und keine Fußgängerüberwege. Man geht einfach – und kommt irgendwann an. Wege sind mal hier und mal da. Und führen überall hin.“

Im Wald ringsum singen Vögel … Der Pfad führt euch durch Schatten und Licht. Der Duft von Frische … Bäume … Ab und zu rauschen Zweige im Wind … Die Ruhe des Waldes macht auch dich ruhig …

An einen Felsblock ist ein schiefes Häuschen gebaut. Unter krummen Fenstern hängen Blumenkästen. Doch alle Blumen sind vertrocknet. Mieze bleibt stehen. „Hier wohnt der Waldschrat“, schnurrt sie.

Du entdeckst eine Traummurmel im Gras am Pfadsaum. Du bückst dich und hebst sie auf. Aber nach Hause möchtest du noch nicht, so steckst du sie ein.

Mieze klopft an der Tür. Der Waldschrat öffnet und lässt euch herein. „Gut, dass du kommst“, brummt er zu Mieze. „Ich kann nicht schlafen, sieben Nächte nun schon. Die Königin hat mir eine Traummurmel versprochen. Hast du sie mit?“

Mieze zuckt zusammen. „Die Traummurmel!“

„Ja, die Traummurmel“ brummt der Waldschrat und gähnt tief.

„Jetzt weiß ich, was ich vergessen habe“, wendet sich Mieze an dich.

„Die Traummurmel?“, fragst du.

„Die Traummurmel!“, grollt der Waldschrat enttäuscht.

„Die Traummurmel“, seufzt Mieze.

„Wie soll ich je schlafen?“, fragt der Waldschrat traurig. „Eine Woche halt ich das Wachsein noch aus, vielleicht auch ein Jahr oder zehn. Aber länger?“ Er seufzt noch tiefer als Mieze.

Da fällt dir etwas ein. Du greifst mit der Hand in die Tasche und berührst die Traummurmel, die du draußen gefunden hast. Aber das ist deine! Sollst du sie geben?

„Hier!“, sagst du und ziehst die Traummurmel aus der Tasche. „Ich gebe dir meine!“

„Wunderbar!“ Müde, sehr müde, strahlt der Waldschrat dich an. Er nimmt die Traummurmel und plumpst gleich in sein Bett. Seine Augen fallen ihm von selbst zu, er schläft sofort ein. Und beginnt laut zu schnarchen.

Leise verlasst ihr sein Häuschen.

„Danke, dass du mir geholfen hast!“, schnurrt Mieze. Sie stupst mit dem Näschen ins Gras. Eine Traummurmel rollt heraus und bleibt vor dir liegen.

Mit geöffnetem Mund staunst du erst die Murmel an, dann Mieze. Ihr lacht.

„Alles findet sich wieder“, schnurrt Mieze.

„Gerade noch rechtzeitig“, sagst du.

Als du die Augen schließt, bist du zu Hause.

Dein weiches Bett … Wie gut es sich liegt! … Wie wohl du dich in ihm fühlen kannst! …

 

Da liegst du – ganz ruhig. Kannst du die Ruhe in dir spüren? Die Ruhe ist überall in dir … Kannst du spüren, wie schwer du bist? Dein ganzer Körper ist schwer, angenehm schwer … Kannst du spüren, wie warm du bist? Die Wärme strömt durch deinen ganzen Körper. Du bist warm, angenehm warm … Dein Atem geht ein und aus, ein und aus, ganz ruhig und gleichmäßig, ganz von allein … Du bist ruhig, schwer und warm – ruhig, schwer und warm … Die Ruhe trägt dich in die Nacht, hinein in den Schlaf, in freundliche Träume …

 

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Diese Gutenachtgeschichte stammt aus dem Buch Volker Friebel (2019): Gutenachtgeschichten vom Wolkenschloss. Entspannungsgeschichten für Kinder. Edition Blaue Felder, Tübingen.

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