Entspannungsgeschichte von Volker Friebel
Stell dir vor, du steigst auf der Wolkentreppe langsam zum Wolkenschloss hinauf, Stufe um Stufe. Stell dir vor, wie du mit jeder Stufe ruhiger und freudiger wirst. Schließlich trittst du von der letzten Wolke in den Hof des Schlosses.
Mieze erwartet dich schon. Sie führt dich in die Küche.
Der Drache Fridolin heizt gerade mit einigen Flammenstößen die Kochtöpfe auf.
Der kleine dicke Koch steht vor dem Regal mit den Kräutervorräten und seufzt. Als er euch sieht, hellt sich seine Miene auf.
„Dem Himmel sei Dank, dass ihr kommt!“, jubelt er. „Ich brauche unbedingt ein paar Zutaten aus den Traumländern. Wollt ihr sie besorgen?“
„Gerne“, schnurrt Mieze.
Der Koch gibt ihr eine Liste. Du nimmst den Korb.
Dann steigt ihr die Wolkenstufen hinab in ein Traumland, Stufe um Stufe, an langsam treibenden Wolken vorbei. Den letzten Schritt setzt ihr auf einen Feldweg zwischen Kornfeldern.
„Wunderbar, Kamille!“, schnurrt Mieze und riecht an den Blüten am Wegrand.
Du pflückst eine Handvoll und legst sie in den Korb.
„Willst du die nicht von der Liste streichen?“, fragst du Mieze.
„Kamille steht doch gar nicht drauf“, schnurrt Mieze. „Ich trinke nur gern Kamillentee.“ Du pflückst noch ein paar Mohnblumen dazu.
Bald seid ihr im Wald und kommt an ein eigenartiges Haus. Büsche und Bäume sind so ineinander verflochten, dass sie Wände bilden – und sogar ein Dach. Hängender Efeu bildet die Tür. Du streichst ihn zur Seite. Ihr geht hinein.
„Hallo“, begrüßt euch ein Zwerg mit riesiger Brille auf der gleichfalls gewaltigen Nase. „Die besten Sachen musst du selber machen. Alles andere gibt es bei Tatti. Das bin ich. Was wollt ihr denn haben?“
Mieze schaut in ihre Liste. „Als erstes brauchen wir einen Atemzug Glückshauch“, liest sie vor.
„Glückshauch, hm“, der Zwerg legt sein Gesicht in Falten und rückt seine Brille zurecht. „Schwierig.“
„Aber kannst du ihn besorgen?“, fragt Mieze.
„Vielleicht“, antwortet Tatti.
„Eine Blume Fantasie“, liest Mieze weiter vor.
Der Zwerg nimmt ein leeres Glas aus dem Regal und verschließt es. Er schließt die Augen und brummelt vor sich hin. Mieze tut es ihm gleich.
„Gedanken weit und wendig – die Fantasie lebendig“, meinst du zu verstehen und siehst, wie im Glas Farben zu wallen beginnen.
Tatti öffnet wieder die Augen und strahlt euch an. Er öffnet das Glas und nimmt eine Blume heraus. Du legst sie verblüfft in den Korb.
Posten für Posten arbeitet ihr Miezes Liste ab. Manches hat Tatti im Laden. Anderes muss er zusammenmischen. Wieder anderes lässt er besorgen. Mit der Bestellung ,Honig‘ schickt er eine Biene in den Wald hinaus. Wenig später kommen tausend Bienen zurück und füllen sein Honigglas.
Zuletzt ist nur noch ein Name auf der Liste übrig. Es ist der erste überhaupt. „Ein Atemzug Glückshauch“, liest Mieze noch einmal vor.
Sie schließt die Augen. Tatti tut es ihr gleich. Erst weißt du nicht, auf was du achten sollst, weil gar kein Glas bereit gestellt ist. Dann fällt dir der Atem der beiden auf. ,Ein Atemzug‘, hieß es ja! Du beobachtest, wie sie ein- und ausatmen. Und dann achtest du auf deinen eigenen Atem, wie er einströmt und ausströmt, ein und aus, ganz ruhig und gleichmäßig, ganz von allein.
Mieze und Tatti öffnen die Augen. „Den Atem haben wir immer dabei“, schnurrt Mieze. „Aber wir achten nicht drauf. Würden wir das, wären wir glücklicher.“
„Ein Atemzug Glückshauch“, nickt der Zwerg dazu.
Du nimmst den gut gefüllten Korb, und ihr verabschiedet euch.
Ihr geht durch den Wald und weiter den Feldweg, bis zu den Wolkenstufen. Der Korb scheint beim Aufstieg immer leichter zu werden. Mit jeder Stufe merkst du, wie du ruhiger wirst.
Im Wolkenschloss legt ihr euch auf das große blaue Sofa und schließt die Augen.
Da liegst du – ganz ruhig. Kannst du die Ruhe in dir spüren? Die Ruhe ist überall in dir. – Kannst du spüren, wie schwer du bist? Dein ganzer Körper ist schwer, angenehm schwer. – Kannst du spüren, wie warm du bist? Die Wärme strömt durch deinen ganzen Körper. Du bist warm, angenehm warm. – Dein Atem geht ein und aus, ein und aus, ganz ruhig und gleichmäßig, ganz von allein. – Du bist ruhig, schwer und warm – ruhig, schwer und warm. – So liegst du ein Weilchen und ruhst dich aus. Du ruhst dich aus und spürst die neue Kraft tief in dir wachsen.
Damit kommt die Geschichte langsam zum Ende. Wenn du bereit bist, reckst und streckst du dich und öffnest die Augen.
Das war aus: Volker Friebel (2019): Entspannungsgeschichten vom Wolkenschloss. Edition Blaue Felder, Tübingen.
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