Kapitän Sturm

Entspannungsgeschichte von Volker Friebel

 

Stell dir vor, du steigst auf der Wolkentreppe langsam zum Wolkenschloss hinauf, Stufe um Stufe. Stell dir vor, wie du mit jeder Stufe ruhiger und freudiger wirst. Mit der letzten Wolke trittst du in den Hof des Schlosses. Mieze erwartet dich schon und führt dich zu einer hölzernen Tür.

Mieze klopft. „Herein, die Tür steht offen“, dröhnt eine tiefe Stimme. Ihr spaziert in die Wohnung.

So etwas hast du im Wolkenschloss noch nicht gesehen. An den Wänden hängen Landkarten, Fischernetze, Muscheln und ausgestopfte Fische. Sogar ein Schwertfisch ist dabei.

Im Wohnzimmer stellt ein breiter Mann Tassen auf den Tisch. „Setzt euch“, brummt er. „Der Tee ist gleich fertig.“

Stühle sind keine zu sehen. Nur ein großer Sessel, in den sich der Mann plumpsen lässt. Und eine Truhe, auf der eine dicke Decke liegt. „Nur zu, hier auf die Schatzkiste!“, ermuntert euch der Mann. Ihr setzt euch.

„Ich bin Kapitän Sturm“, wendet er sich an dich. Du sagst deinen Namen.

„Wir kennen uns ja“, brummt der Kapitän zu Mieze. „Wird Zeit, dass du deinen Besuch einmal mitbringst. Du weißt, mein Tee ist der beste!“

„Vor allem deine Geschichten“, schnurrt Mieze.

„Woher haben Sie denn Ihren Namen?“, fragst du neugierig.

„Oh, von meinem Vater“, lacht Kapitän Sturm. „Und der hat ihn von seinem Vater, der auch zur See fuhr. – Obwohl ich mir den Namen oft genug verdient habe“, fährt er fort und streicht sich über den weißen Bart.

Er gießt euch Tee ein. In seine eigene Tasse kommt noch ein ordentlicher Schuss Rum. Dann streicht sich Kapitän Sturm noch einmal über den Bart und schließt die Augen.

„Das erinnert mich an eine Fahrt mit der Trubeldatt durch den indischen Ozean“, beginnt er. „Seit Wochen regte sich kein Lüftchen, die Segel hingen schlapp herab. Kein Land in Sicht. Die Vorräte gingen langsam zur Neige, vor allem das Wasser. Und um uns ein ganzes Meer aus Wasser – aber Salzwasser, das kein Kanarienvogel trinken kann“, brummt Kapitän Sturm.

„Und was habt ihr gemacht?“, fragt Mieze.

„Zum Glück hatten wir einen Vorrat schnell wachsendes Himmelskraut dabei. Davon steckten wir eine Bohne in einen Pflanzenkübel auf dem Deck und gossen kräftig. Denn Himmelskraut gedeiht mit Salzwasser sogar besonders gut.

Fast sofort wuchsen Blätter. Auf jedes Blatt stellte sich ein Matrose, unser Wolkentrupp. Ich ging als Kapitän mit gutem Beispiel voran. Die anderen gossen und gossen – und das Himmelskraut wucherte in den Himmel hinein. Und nahm uns mit.

Hoch oben fingen wir mit unseren Seilen ein paar Wolken ein und zogen sie über das Schiff. Bald regnete es in Strömen, und wir konnten unseren Durst löschen.

Aber der Wind, der dadurch aufgekommen war, wurde so stark, dass sogar das Himmelskraut ins Schwanken kam. Wir verloren das Gleichgewicht, plumpsten von Blatt zu Blatt und landeten endlich mit einigen blauen Flecken auf dem Deck unserer Trubeldatt.“

Der Kapitän setzt sein Teeglas hart ab. Dann fährt er fort: „Der Sturm blies den ganzen Tag und die ganze Nacht durch. Am nächsten Morgen landeten wir in Afrika. Dort wurden wir sofort als Piraten festgenommen und in eine winzige Zelle gesperrt. Aber das ist eine andere Geschichte.“

Der Tee ist kalt geworden. Mieze erhebt sich. Auch du stehst auf. „Kommt wieder einmal vorbei“, verabschiedet Kapitän Sturm euch.

„Ein Blatt vom Himmelskraut“, sagt er zu dir, als du ein riesiges Pflanzenblatt über der Wohnungstür betrachtest. „Ich glaube sogar, das ist jenes, auf dem ich damals selbst stand.“ Er zwinkert.

Du gehst mit Mieze über den Hof des Wolkenschlosses.

„Ob die Geschichte stimmt?“, fragst du.

„Ich war nicht dabei“, schnurrt Mieze königlich. „Aber das Zuhören war schön!“

„Ja“, sagst du.

Ihr legt euch auf das große blaue Sofa und schließt die Augen.

 

Da liegst du – ganz ruhig. Kannst du die Ruhe in dir spüren? Die Ruhe ist überall in dir. – Kannst du spüren, wie schwer du bist? Dein ganzer Körper ist schwer, angenehm schwer. – Kannst du spüren, wie warm du bist? Die Wärme strömt durch deinen ganzen Körper. Du bist warm, angenehm warm. – Dein Atem geht ein und aus, ein und aus, ganz ruhig und gleichmäßig, ganz von allein. – Du bist ruhig, schwer und warm – ruhig, schwer und warm. – So liegst du ein Weilchen und ruhst dich aus. Du ruhst dich aus und spürst die neue Kraft tief in dir wachsen.

 

Damit kommt die Geschichte langsam zum Ende. Wenn du bereit bist, reckst und streckst du dich und öffnest die Augen.

 

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Das war aus: Volker Friebel (2019): Entspannungsgeschichten vom Wolkenschloss. Edition Blaue Felder, Tübingen.

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