Wolkenschloss

Entspannungsgeschichte von Volker Friebel

 

Stell dir vor, du liegst auf einer weiten Wiese und hast die Augen geschlossen. Gras wiegt im Wind. Vögel singen. Du spürst die Ruhe in dir … Dein Atem geht ein und aus, ein und aus, ganz ruhig und gleichmäßig, ganz von allein …

Ein Windhauch weht über dein Gesicht – und schon tanzt ein Schmetterling vor deiner Nase. Auf und ab, hin und her – du meinst fast, dass er dir zuzwinkert.

Jetzt flattert er davon. Und schaut zurück, ob du ihm folgst.

Du gehst hinter dem Schmetterling über die Wiese. Vor dir bilden sich Wolken, wie Stufen. Die unterste schwebt dicht über dem Gras. Auf der obersten erhebt sich das Wolkenschloss.

Der Schmetterling flattert weiter, die Wolkenstufen hinauf, dem Schloss zu.

,Mit Mut geht’s gut‘, sagst du tief in dich hinein.

Du gehst die Stufen zum Wolkenschloss. Das Tor steht weit offen. Du trittst ein. Trompeten schmettern.

„Willkommen!“ Im Schlosshof der kleine Mann trägt eine Krone. In den Händen hält er eine goldene Gießkanne. „Ich bin der kleine König Ferdinand. Willkommen im Wolkenschloss!“ Er blinzelt dir freundlich zu. „Wenn du Ruhe und Kraft brauchst, hier findest du sie. Du kannst immer hierher kommen, so oft du willst. Schau dich um! Mieze, meine königliche Vertraute, wird dich begleiten.“

Der kleine König deutet auf eine Katze neben sich. Sie ist ganz weiß, bis auf die großen grünen Augen. Sie gähnt. Der kleine König gießt das letzte Gänseblümchen des Rasens und verschwindet in seinen Gemächern.

Mieze führt dich durchs Schloss.

Zuerst besucht ihr die Küche, wo der Koch gerade eine Suppe für den König zubereitet. „Hinaus, hinaus, sonst kocht sie über!“, ruft er, als Mieze kosten will.

Im Verlies wirbelt Staub. „Leider steht es leer, seit das letzte Gespenst ausgewandert ist“, schnurrt Mieze. „Ich hoffe, es kommt zurück.“

Ihr schaut in die Schatzkammer – da erhebt sich ein Drache von einer offenen Truhe. Er blinzelt mit seinen Lidern und öffnet das Maul. Lodert da nicht eine Flamme in seinem Rachen? Schnell schließt du die Tür wieder.

Mieze schnurrt. „Das war Fridolin, der Schlossdrache. Die Schatztruhe ist sein Lieblingsplatz.“

Im Rosengarten schneidet gerade Esmeralda, die Nichte des Königs, mit ihren Freundinnen alle Blüten ab. Scheren klappern. Die Mädchen kichern dabei. „Das gibt Rosenblütentee“, schnurrt Mieze. „Igitt-igitt – aber die Königin liebt ihn.“

Das Bild eines Segelschiffs hängt über einer Tür. „Da wohnt Kapitän Sturm“, schnurrt Mieze. „Einst fuhr er über alle sieben Meere. Nun hat er sich im Wolkenschloss zur Ruhe gesetzt. Vielleicht besuchen wir ihn mal.“

Im Rittersaal bestaunst du die Waffensammlung. Die Schwerter und Schilde, die Lanzen und Rüstungen sind klein. Du fragst Mieze nach den großen Trichtern, die an den Wänden hängen.

„Das sind Wolkenbläser“, schnurrt sie. „In früheren Zeiten wurden damit feindliche Wolkenburgen abgewehrt. Du bläst hinein, die Trichter verstärken deinen Atem, der Sturm treibt die Wolkenburgen davon.“

Ihr steigt auf einen der Türme und schaut auf das Wolkenmeer. Mieze zeigt dir die Stufen hinab in die blauen Länder. „Dort gibt es manche Abenteuer“, schnurrt sie.

Du siehst ein Land, in dem die Blätter der Bäume durchsichtig sind, wie Glas, und der Wind lauter Lieder tönt.

Du siehst ein Land, in dem es nirgendwo Straßen gibt und die Menschen mit Federschwingen fliegen.

Du siehst ein Land, in dem die Tiere die Herrschaft übernommen haben und ein Schmetterling König ist.

Ihr steigt die Stufen des Turmes wieder hinab. Mieze gähnt königlich. Ihr legt euch auf das große blaue Sofa im Burghof. Du schließt deine Augen.

Da liegst du – ganz ruhig. Kannst du die Ruhe in dir spüren? Die Ruhe ist überall in dir. – Kannst du spüren, wie schwer du bist? Dein ganzer Körper ist schwer, angenehm schwer. – Kannst du spüren, wie warm du bist? Die Wärme strömt durch deinen ganzen Körper. Du bist warm, angenehm warm. – Dein Atem geht ein und aus, ein und aus, ganz ruhig und gleichmäßig, ganz von allein. – Du bist ruhig, schwer und warm – ruhig, schwer und warm. – So liegst du ein Weilchen und ruhst dich aus. Du ruhst dich aus und spürst die neue Kraft tief in dir wachsen.

Damit kommt die Geschichte langsam zum Ende. Wenn du bereit bist, reckst und streckst du dich und öffnest die Augen.

 

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Das war die Titelgeschichte aus: Volker Friebel (2019): Entspannungsgeschichten vom Wolkenschloss. Edition Blaue Felder, Tübingen.

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