Der kleine König hat Angst

Entspannungsgeschichte von Volker Friebel

 

Stell dir vor, du steigst auf der Wolkentreppe langsam zum Wolkenschloss hinauf, Stufe um Stufe. Stell dir vor, wie du mit jeder Stufe ruhiger und freudiger wirst. Schließlich trittst du von der obersten Wolke in den Hof des Schlosses.

Der kleine König Ferdinand läuft aufgeregt auf und ab. „Ein Ungeheuer“, ruft er immer wieder. „Das Schloss ist verloren!“ Du schaust dich um, kannst aber nichts Ungewöhnliches erkennen. Der kleine König greift nach seiner Krone, als wolle er sie festhalten.

Auch Mieze sieht verschreckt aus. Sie kauert neben dem blauen Sofa. Ihre grünen Augen blitzen.

„Vielleicht kannst du uns helfen!“ Der kleine König ist stehen geblieben und schaut dich an.

„Aber du hast doch deine Zwerge“, sagst du und zeigst auf die kleinen Ritter, die sich im Schlosshof aufgestellt haben.

„Schau, wie sie zittern!“, sagt Ferdinand. Und tatsächlich, du siehst, die Ritter in ihren Rüstungen zittern wie Espenlaub.

„Der Hauptmann ist in Ohnmacht gefallen, als er das Ungeheuer sah“, sagt der kleine König. „Er liegt auf der Krankenstation. Und jemand muss die Ritter doch führen!“

„Und der Drache?“, fragst du. „Kann er nicht helfen?“

„Der kommt die schmale Treppe des Turms nicht hinauf. Und eben dort oben hat sich das Ungeheuer versteckt.“

Ein Ungeheuer, das sich versteckt? Langsam gehst du zum Turm. Mieze und der kleine König gehen hinter dir.

Die Tür zum Turm ist schwer zu öffnen. Sie knarrt. Du schaust die Treppe hinauf und kannst nichts erkennen. Der kleine König entzündet eine Fackel und gibt sie dir. Eine zweite trägt er selbst. Das flackernde Licht sieht unheimlich aus.

Du achtest auf deinen Atem und spürst, wie du ruhiger wirst. Dein Atem geht ein und aus, ein und aus, ganz ruhig und gleichmäßig, ganz von allein … Ruhe und Kraft strömen in dich. ,Mit Mut geht’s gut‘, sprichst du in dich hinein.

Du steigst die Stufen hinauf. König Ferdinand und Mieze folgen dir. Im obersten Raum des Turms bläst ein kräftiger Windzug die Fackeln aus. Du erschrickst. Von der Decke des Raums beobachten euch zwei riesige Augen.

,Mit Mut geht’s gut‘, sagst du nochmals tief in dich hinein und achtest auf deinen Atem.

Der kleine König hat endlich Streichhölzer gefunden. Mit zitternden Fingern entzündet er die Fackeln neu. Wo ist das Ungeheuer? – Ihr seht eine Eule auf dem Schrank sitzen. Ihre Augen scheinen im Licht viel kleiner geworden. Sie sieht euch ruhig an.

„Ein Uhu!“ Der kleine König atmet erleichtert durch. „Und wir dachten, dass, wir dachten, dass … Was dachten wir eigentlich, Mieze?“ Mieze schnurrt nur und blinzelt.

„Wir dachten gar nichts und malten uns alles Schlimme aus“, stellt der kleine König fest. „Statt einfach nachzuschauen.“ Er seufzt.

„Liebe Eule“, spricht der kleine König Ferdinand feierlich den Uhu an. „Ich ernenne dich hiermit zum Wächter des Turms!“

Der Uhu bestätigt seine Ernennung durch Schweigen. Er blinzelt.

Der kleine König Ferdinand seufzt noch einmal. Ihr steigt den Turm hinunter. Dieses Mal fallen die Stufen viel leichter.

Im Schlosshof bedankt sich der kleine König bei dir. „Was hätten wir ohne dich getan?“, fragt er vor den Reihen seiner Ritter. „Wir hätten weiter gezittert. Du aber hast nachgeschaut.“ Er nickt. „Ich gebe dir hiermit den Titel Turmbesteiger“, sagt er. Kopfschüttelnd verschwindet er in seinen Gemächern.

Du legst dich auf das große blaue Sofa und schließt deine Augen.

 

Da liegst du – ganz ruhig. Kannst du die Ruhe in dir spüren? Die Ruhe ist überall in dir. – Kannst du spüren, wie schwer du bist? Dein ganzer Körper ist schwer, angenehm schwer. – Kannst du spüren, wie warm du bist? Die Wärme strömt durch deinen ganzen Körper. Du bist warm, angenehm warm. – Dein Atem geht ein und aus, ein und aus, ganz ruhig und gleichmäßig, ganz von allein. – Du bist ruhig, schwer und warm – ruhig, schwer und warm. – So liegst du ein Weilchen und ruhst dich aus. Du ruhst dich aus und spürst die neue Kraft tief in dir wachsen.

 

Damit kommt die Geschichte langsam zum Ende. Wenn du bereit bist, reckst und streckst du dich und öffnest die Augen.

 

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Aus dem Buch: Volker Friebel (2019): Entspannungsgeschichten vom Wolkenschloss. Edition Blaue Felder, Tübingen.

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